Blog

Erasmus-Reisebericht aus Tallinn

Ende Februar war es wieder soweit – die nächste Erasmus-Reise stand an. Unser Ziel: Tallinn, die Hauptstadt von Estland.

Estland ist nicht unbedingt als klassisches Reiseziel bekannt; in den Fokus rückte der kleine Staat im Baltikum in den vergangenen Jahren durch seine herausragenden Ergebnisse in der PISA-Studie. Auch in Hinblick auf die gute digitale Infrastruktur ist Estland ein Vorzeigeland. Grund genug, sich ein Bild vom System der Frühen Bildung in Estland zu machen.
Sabine Door, seit 2017 Leitung der Kita Fantasie Kinderhaus in Hamburg Wilhelmsburg, hat an der Reise teilgenommen und mir von Ihren Eindrücken berichtet. Eine ihrer ersten Impressionen: Was für zufriedene und aufgeschlossene Kinder dort in den Kitas sind! Ein guter Ausgangspunkt, um mehr über die Einrichtungen und das System erfahren zu wollen.

Bildung ist für alle da

Der Zugang zu den Einrichtungen ist für alle Kinder gleich, die Einrichtungen sind bis auf das Mittagessen von 7 bis 17 Uhr kostenfrei, ganz unabhängig vom familiären Hintergrund.

Der Kita-Alltag in Estland ist sehr durchstrukturiert, es gibt eine konkrete Jahresplanung mit vielen Veranstaltungen. Die Teilnahme an diesen wird auch erwartet und es scheint weniger Raum für individuelle Freiheiten zu geben. Ein nationales Curriculum regelt den übergeordneten Rahmen, dieses sei aber vom Umfang deutlich schlanker als etwa die Hamburger Bildungsempfehlungen. Eine vielfältige Trägerlandschaft wie in Hamburg kennt man dort nicht, die meisten Kitas sind in staatlicher Trägerschaft.

Sabine berichtet von ihrem Eindruck, dass Partizipation anders gelebt wird. Durch die stärkere Strukturierung liege der Fokus weniger auf der individuellen Entwicklung des einzelnen Kindes und der persönlichen Entfaltung, der Gemeinschaftssinn ist spürbarer und wird durch viele gemeinsame Veranstaltungen und Aktivitäten auch gefördert. Extra-Angebote wie etwa ein Tanzangebot sind im Alltag inkludiert und keine kostenpflichtige Zusatz-Leistung.

Es gibt im schulischen Kontext ein umfangreiches Angebot an außerinstitutionellen Freizeitaktivitäten, auf die großen Wert gelegt wird. Dies bietet insofern eine weitere Möglichkeit, den eigenen Interessen entsprechend Angebote wahrzunehmen.

Bildung hat einen sehr hohen Stellenwert und gilt als wichtige Ressource. Allerdings berichtet Sabine auch, dass der Leistungsdruck zunehme und etwa die Rate der psychisch kranken Jugendlichen ansteige.

Stichwort Inklusion

Der Besuch des Raja Leijdja hat einen Einblick in das Verfahren im Umgang mit Kindern mit Förderbedarfen gegeben. Als interdisziplinäres Zentrum mit multiprofessionellem Team, das sowohl von Fachkräften aus Bildungseinrichtungen, also auch durch Eltern konsultiert werden kann, hält es therapeutische wie auch sozialpädagogische Unterstützungsangebote vor. Der Zugang zum Zentrum bzw. in die Förderung ist vergleichsweise niedrigschwellig, es ist keine ärztliche Überweisung nötig; eine langwierige Diagnostik im Vorfeld der Förderung entfällt. Auch die Wartezeiten sind dafür deutlich kürzer als wir es von Diagnostikzentren in Hamburg kennen. Besonders ist der systemische Ansatz der nicht nur das Kind selbst, sondern auch die Bildungseinrichtung in den Blick nimmt. Leitlinien sollen den Kindergärten und Schulen dabei helfen, auftretende Probleme erfolgreicher zu lösen. Gleichwohl gibt es auch Ratgeber und Übungsvideos für Eltern.

Demokratiebildung

Ein zentraler Themenschwerpunkt der Reise war die Demokratiebildung. Passenderweise ist die Gruppe direkt am ersten Tag mit einer (Militär-) Parade zum Unabhängigkeitstag gestartet. Dieser wichtige nationale Feiertag wurde auch im Vorfeld bereits in den Kitas thematisiert und entsprechend vorbereitet bzw. gefeiert. Selbst in einer Beratungsstelle für Eltern gab es eine entsprechende Teamfeier.

Die nationale Unabhängigkeit ist für Estland enorm wichtig, da hierdurch eine Abgrenzung zu Russland und dem langjährigen sowjetischen Einfluss erfolgt. Sabine meint, dieser Einfluss sei aber nach wie vor auch in den besuchten Einrichtungen zu spüren, generell spiele Patriotismus eine wichtigere Rolle, wie auch das Bekenntnis zur Gemeinschaft.

Ein aktueller Beschluss legt fest, dass russischsprechende Fachkräfte seit kurzem nur noch estnisch sprechen dürfen. Offen bleibt die Frage, inwieweit Abgrenzung hier auch zu Ausgrenzung führt. Im Fantasie Kinderhaus sind viele Erzieher:innen mehrsprachig und nutzen diese Ressource auch zur Verständigung mit den Kindern, die erst in der Einrichtung deutsch lernen.

Natürlich ist dieser Vergleich zwischen Hamburg und Tallinn nur bedingt möglich, denn im Gegensatz zu Deutschland ist Estland kein Einwanderungsland. Die Kindergruppen in den Kitas erscheinen deutlich weniger divers, als Sabine es aus Wilhelmsburg, das für seine multikulturelle Bevölkerung bekannt ist, kennt.

Wer arbeitet in den Kitas?

Um in Estland in einem Kindergarten arbeiten zu dürfen, bedarf es analog zu unserem Ausbildungssystem eines Studiums. Es arbeiten aber auch viele Hilfskräfte in den Einrichtungen. Der Zugang zur “Kindergartenlehrerin” ist dementsprechend relativ hochschwellig. Das Ansehen der Fachkräfte ist hoch, auch die Kindergärten sind als Bildungseinrichtungen anerkannt und gesellschaftlich geachtet.

Was nehmen wir mit aus 4 Tagen Talllinn-Aufenhalt?

Insgesamt betrachtet lassen sich also einige Unterschiede feststellen, die uns teilweise ungewöhnlich vorkommen, teilweise inspirierend sind und zur weiteren Reflexion anregen. Das kann auch eine klare Abgrenzung zu bestimmten Aspekten sein.

Wichtig ist hierbei immer ein differenzierter Blickwinkel:
Der Gemeinschaftssinn etwa kann sehr positive Assoziationen hervorrufen, während der gelebte Patriotismus ungewohnt erscheint, möglicherweise auch irritiert oder gar befremdet.

Das Raja Leijdja hat hat uns einen interessanten Einblick in ein System gegeben, das den Grundgedanken von Inklusion ernst nimmt, indem es daran ansetzt, die Rahmenbedingungen zu optimieren und gleichermaßen für Eltern wie für Fachkräfte unterstützend zur Verfügung steht.

Neben den Eindrücken aus den Hospitationen, Museums- und Beratungsstellen-Besuchen und dem Uni-Vortrag ist auch die Wahrnehmung des dortigen Lebensgefühls ein wichtiger Bestandteil einer Bildungsreise. Diese Dinge lassen sich vielleicht nicht so gut in Worte fassen.

Sabine hat jedenfalls das Rahmenprogramm und den Austausch mit den anderen Teilnehmenden als bereichernd wahrgenommen und hat ihre Erfahrungen mit ihrem Team geteilt und besprochen.

Wir hoffen, dass allen Teilnehmenden die Reise gefallen hat und der Einblick in ein anderes Kita-System, bei allen bestehenden Schnittstellen, bei euch genauso bleibende Eindrücke hinterlassen hat, wie es bei Sabine der Fall ist.

Warst du in Tallinn dabei und hast die Dinge anders wahrgenommen?
Lass uns gern daran teilhaben und schreibe einen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar